Als Ben seine Lieblingsfigur in einem Spielzeugladen sieht, steht er vor einem Dilemma. Er weiss, dass seine Mutter ihm die Figur nicht kaufen wird, möchte sie aber unbedingt haben. Eine Kurzgeschichte zum Thema Jugendstrafrecht.
Der 11-jährige Ben ist gerade in einem Spielzeugladen mit seiner Mutter Lisa. Seine Cousine Ella hat morgen Geburtstag und sie wollen gemeinsam ein Geschenk aussuchen für ihre Party. Sie entscheiden sich für ein flauschiges Plüsch-Einhorn. Während Lisa an der Kasse ansteht, um das Einhorn-Plüschtier zu bezahlen, macht Ben noch einen Abstecher in den hinteren Teil des Ladens. Dort sind nämlich die Spielfiguren aus dem Film Avatar, die ihm so gefallen. Besonders eine steht schon so lange auf seiner Wunschliste, doch seine Mutter findet, dass er bereits genug davon hat. Ben hat wirklich schon eine grosse Sammlung zuhause, aber ein «Ikran» fehlt noch darin. Der Flugdrache ist so cool! Wie gerne würde er zuhause damit spielen. Ob es wohl jemand merken würde, wenn er ihn einfach mitnimmt? Ben weiss, dass das nicht okay ist. Aber dieser Laden hat doch so viele davon. Die merken nicht einmal, wenn eine Figur fehlt! Ben schaut sich um: Niemand scheint ihn zu beachten. Er zögert einen Moment, dann nimmt er den Ikran und steckt ihn kurzerhand in seine Jackentasche. Er geht zurück zu seiner Mutter. Diese hat das Plüschtier in der Zwischenzeit bezahlt und die beiden verlassen gemeinsam den Laden. Ben ist nervös und gleichzeitig erleichtert, als sie draussen ankommen. Das hätte ich nicht tun sollen, geht es durch seinen Kopf. Sein Herz rutscht in seine Hose, als es hinter ihnen ertönt: «Entschuldigung!». Lisa bleibt stehen und dreht sich um. Die Verkäuferin kommt aus dem Laden gerannt. «Sie haben Ihr Portemonnaie auf dem Tresen liegen gelassen», sagt sie und lächelt. «Oh mein Gott, zum Glück ist mein Kopf angewachsen! Herzlichen Dank!», antwortet Bens Mutter. «Kein Problem! Einen schönen Tag Ihnen beiden!» Die Verkäuferin winkt und geht zurück in den Laden. Ben spürt einen Kloss in seinem Hals.
Zuhause angekommen, rennt er in sein Zimmer. Er nimmt den Ikran aus seiner Jackentasche. Eigentlich wollte er damit spielen, aber jetzt plagt ihn ein schlechtes Gewissen. Das war nicht richtig – seine Mutter hatte ihm schon immer gesagt, dass man nicht einfach Sachen nehmen darf, die einem nicht gehören. Seine Augen füllen sich mit Tränen. «Ben, möchtest du mir beim Einpacken helf-… Oh, was ist los?», Lisa steht im Türrahmen. Sie kommt rein, streicht ihm über den Kopf und kniet sich neben ihn hin. «Ich habe etwas Blödes gemacht», sagt er und zeigt auf die Spielfigur. «Ich-ich wollte doch so gerne den Ikran haben und dann…», Ben kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Seine Mutter schaut ihn streng an und nimmt ihn in den Arm. «Ach Ben. Danke, dass du es mir gesagt hast. Du weisst doch, dass man das nicht tun darf. Wir bringen die Figur zurück», sagt sie. Ben schluchzt und nickt. Hoffentlich hat das kein böses Nachspiel für mich – schliesslich bin ich für ihn verantwortlich, denkt Lisa.
Die Verkäuferin zeigt sich zum Glück nachsichtig mit Ben. «Ich weiss, dass all die Spielsachen sehr verlockend sein können. Du hast das Richtige gemacht, als du die Figur zurückgebracht hast. Danke für deine Ehrlichkeit», sagt sie. Von einer Anzeige hatte sie abgesehen, obwohl im Laden ein grosses Schild steht mit der Aufschrift «Jeder Diebstahl wird angezeigt!». «Vielen Dank für Ihr Verständnis», sagt Bens Mutter. «Ich bin froh, dass Sie mich deswegen nicht angezeigt haben.»
«Also genau genommen hätte die Anzeige Ihren Sohn betroffen», sagt die Verkäuferin.
«Wie jetzt? Ben ist doch noch ein Kind!», sagt Lisa ungläubig.
«Er ist vermutlich älter als 10, oder?»
«Ja, Ben ist 11.»
«Dann gilt er als strafmündig. Das ist man in der Schweiz ab 10 Jahren. Das heisst, Ihr Sohn hätte auch die Konsequenzen tragen müssen bei einer Anzeige.»
Ben starrt sie mit grossen Augen an. «Wäre ich dann ins Gefängnis gekommen?»
«Nein, nein, das nicht», sagt die Verkäuferin und schmunzelt. «Ich denke, du hättest einen sogenannten Verweis bekommen. Das ist eine förmliche Missbilligung deiner Tat. Da du von dir aus eingesehen hast, dass das nicht gut war, passiert in der Regel nicht viel mehr.»
«Oh, also erleben Sie das oft?», fragt Lisa.
«Nein, in der Regel sind die Leute nicht so ehrlich wie Sie. Wenn wir oder unser Ladendetektiv Jugendliche inflagranti beim Stehlen erwischen, müssen wir es leider zur Anzeige bringen. Dann gibt es teilweise auch andere Strafen und Massnahmen für die Täterinnen und Täter.»
«Da haben wir ja wieder etwas gelernt», sagt Lisa und schaut zu Ben, der wohl am liebsten im Erdboden versunken wäre. «Vielen Dank nochmals für Ihre Ehrlichkeit», sagt die Verkäuferin und widmet sich wieder ihrer Kundschaft. Lisa und Ben verlassen den Laden.
Wieder zuhause ist Lisa verunsichert. Was hatte die Verkäuferin gemeint mit den anderen Strafen und Massnahmen? Sie war immer davon ausgegangen, dass sie als Erziehungsberechtigte mit Konsequenzen rechnen müsste, wenn Ben als Minderjähriger Dummheiten anstellt. Sie setzt sich an den Laptop und googlet «Strafen und Massnahmen Jugendliche Schweiz». Sie findet einen Blogartikel: «Kriminelle Jugendliche: Diese Strafen und Massnahmen gibt es in der Schweiz». Sie liest den Artikel und schaut sich weiter auf der Website um. Edukado – noch nie gehört. Auf der Plattform entdeckt sie diverse kostenlose Onlinekurse für Jugendliche in Bereichen wie Jugendstrafrecht, psychische Gesundheit und Suchtprävention. Sie findet auch einen Kompaktkurs zum Thema Jugendstrafrecht, extra für Eltern. Sie investiert 30 Minuten und ist überrascht darüber, was sie sonst noch alles nicht gewusst hat. Sie kopiert den Link der Website und schickt ihn an die Schulleitung von Bens Schule. «Das sollten mehr Eltern und ihre Kinder wissen», findet Lisa.